Drafi hat geschrieben:luwy hat geschrieben:Aber für Protestanten? Da ist die Tradition doch schlecht! Da heißt es doch "die Bibel allein"! Wo in der Bibel steht aber, welche Bücher der Bibel Teil der Bibel sein sollen, und welche nicht?
Eben! Es steht nicht in der Bibel. Das ist EIN Grund, weshalb man Tradition braucht. Auf deiner Seite gibt es die Verschwörungstheorie, dass die Katholiken die über nur aus doktrinellen Gründen "hinzugefügt" wurden. Aber warum sollte es nicht umgekehrt gewesen sein: dass Luther die Bücher ebendeshalb "weggestrichen" hat? Mit seinem Fehler sola scriptura hätte er der Logik halber wenigstens noch ein Buch erfinden können, in dem die (bei allen Konfessionen nicht biblische) Lehre des Bibelkanons dargelegt ist. Nicht, dass ich das gut fände, aber es höbe EINEN Widerspruch auf.

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Drafi
Lieber Drafi,
Du befindest Dich im Verteidigungsmodus. Deine geliebte Kirche wurde angegriffen, und Du verteidigst mit allem Eifer. Das ist gut. Doch achte dabei darauf, daß Du nicht die angreifst, die Dich nicht angegriffen haben. Und achte darauf, daß Du es mit Wahrheit und echtem Wissen tust, nicht mit Hörensagen.
Was meine ich: Ich habe, so weit ich weiß, die katholische Kirche nicht angegriffen. Habe im Gegenteil Gründe geliefert, warum aus meiner Sicht das griechisch-altkirchliche und das katholisch-mittelalterliche Paradigma logisch durchgängiger sind, als das protestantische. Und selbstverständlich ist meine Sicht eben nur meine, und nicht unumstößlich-allgemeingültige Wahrheit.
Ja, ich bin nicht mehr katholisch, doch habe ich von guten Katholiken und auch aus der Tradition viel Gutes und Richtiges gelernt, genau so, wie ich von guten Protestanten und der protestantischen Tradition (ja, die gibt es! Auch wenn Protestanten das nicht gerne hören) viel Gutes und Richtiges gelernt habe. Ich habe in allen "Lagern" gute Freunde. Dementsprechend halte ich auch nichts davon, wenn Christen, die doch dem Gott der Liebe anhängen, einander mit Hass begegnen und einander Fehler zeihen.
Mich anzugreifen, Drafi, und meinen Glauben, meine Tradition, ist unklug, vorallem, wenn Du nicht wesentlich mehr darüber weißt, als Du anscheinend weißt.
Laß mich Dir hierzu zwei Beispiele bringen:
Auf deiner Seite gibt es die Verschwörungstheorie, dass die Katholiken die über nur aus doktrinellen Gründen 'hinzugefügt' wurden.
Ich bin Mormone, und wir glauben nicht, daß die Katholiken der Bibel irgendwelche Bücher oder Verse der Bibel hinzugefügt haben. Für uns sind nicht "die Katholiken" die Bösen. Aber daß über die Jahrhunderte sowohl Fehler sich eingeschlichen haben als auch Menschen ihre eigenen Lehren in die Bibel hineingeschrieben haben, das ist gute, wissenschaftliche Lehre. Ich sage jetzt nur mal "Comma Johanneum". Oder Das Ende von Markus. Oder daß es vom Neuen Testament 150.000 Manuskriptvarianten, die so massiv sind, daß es kein einziges Wort im ganzen Neuen Testament gibt, das in allen Manuskripten an der gleichen Stelle steht. Das sind Fakten, die nicht von Mormonen erfunden wurden, das sind Tatsachen, die Dir jeder katholische und jeder evangelische Wissenschafter im Bereich der Bibelforschung bestätigen wird. Und da sind wir noch gar nicht dabei, das Alte Testament zu untersuchen und zu sehen, welche Texttradition aus dem Masoretischen Text und welche aus der Septuaginta stammt. Das alles ist für Katholiken natürlich nicht so wichtig, wie für Protestanten, und zwar weil es im Katholischen eben das Korrektiv Tradition gibt. Aber zu sagen, das gäbe es nicht, das ist ein Augenverschließen vor den Tatsachen.
Weiters sagst Du:
Aber warum sollte es nicht umgekehrt gewesen sein: dass Luther die Bücher ebendeshalb 'weggestrichen' hat?
Aber natürlich hat Luther Bücher weggestrichen! Sag ich doch! Er entschied sich gegen den Septuaginta Text des AT und für den Masoretischen Text. Und deshalb hat er die Deuterokanonischen Schriften (was bei Protestanten "Apokryphen des Alten Testamentes" heißt) rausgeworfen, und wollte auch vom Jakobusbrief, der Johannesoffenbarung und dem Hebräerbrief nichts wissen. Aber Luthers "Sola Scriptura" ist nicht vergleichbar mit dem heutiger Protestanten, denn für ihn war alles Heilige Schrift, "was Christum treybet", egal ob es Moses, Petrus, Herodes oder gar Satan sagt, und alles, "was Christum nicht treybet", das war für Luther auch nicht Heilige Schrift, egal ob es nun Moses, Petrus, Paulus oder Herodes sagt. Das war sicherlich eine Redefinition des Glaubens und des "Evangeliums".
Und als Mormone bin ich mehr darüber besorgt, was aus der Bibel weggenommen wurde, als über das, was im Laufe der Zeit dazu gekommen ist.
Und noch viel besorgter bin ich darüber, daß man Glaubensbekenntnisse eingeführt hat, menschliche Formulierungen, wie denn die Heilige Schrift zu lesen sei, und zwar um Prophetie zu unterdrücken. Damit wurde das Glaubensbekenntnis über das Wort Gottes gestellt. Ich verstehe, warum Irenäus von Lyon - mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und wegen der sich ihm bietenden Situation - diese massive Veränderung des Glaubens eingeleitet hat, verstehe, warum über die folgenden Jahrhunderte die Kirche diesem Weg nachfolgen mußte, aber für mich (!) ist es dennoch nicht der richtige Weg.
Aber wenn Du als gläubiger Katholik das anders siehst, wenn Du in dem Weg, den Du gehst, glücklich bist und Gott findest, wer bin ich, um Dir zu sagen, daß
Du auf dem falschen Weg wärst? Ich bin ein Mensch wie Du, auch wenn ich das Priestertum Gottes trage. Und meine Meinung kann und darf für Dich nicht maßgeblich sein. Wenn sie aber Dich zum Denken anregt, dann ist sie vielleicht gut für Dich. Wenn nicht, dann nicht. Ich sehe aber keinen Grund, warum Du mit mir oder ich mit Dir darüber in den (verbalen) Krieg ziehen müßtest.